Stille

Ich höre nichts. Gar nichts. über dem Gipfel, von dem wir abgestiegen sind, erscheint ein Flugzeug. Sein Geräusch wird erst in wenigen Sekunden zu hören sein. Bis dahin ist es völlig still. Nichts zu hören empfinde ich als eine Wonne. Der Zustand ist etwa so selten zu erreichen wie ein perfekter Moment, den heiligen Gral in den Händen zu halten oder im Lotto einen Sechser zu bekommen. Weil ich meinen Hörsinn nicht abschalten kann, ich bin permanent Geräuschen ausgeliefert. Der einzige Zweck von Menschen und Maschinen scheint zu sein, möglichst ausdauernd und renitent zu lärmen. Klar, man lernt auszublenden, wegzudrücken, sich zu konditionieren. Aber schön oder erstrebenswert ist das natürlich nicht.

Ist Stille ein angenehmer Moment? Für mich ja, aber ich bin hier ohnehin auf der Suche nach dem "Weniger", der Reduktion, dem Weglassen. Dass in der Gaststube der Alpenvereinshütte kein Radio läuft, ist ein Geschenk, das ich gar nicht hoch genug einschätzen kann. Stattdessen hört man Würfel, die über eine Tischplatte rollen, Menschen, die über ihre geplanten Touren reden, eine knarrende Stubentüre. Um neun Uhr wird es stiller. Die Gäste gehen in ihre Zimmer. Ab Zehn herrscht Ruhe. Balsam für meine Ohren.

Eigentlich wollte ich am Berg Musik machen. Das erscheint mir sinnlos. Alles, was ich vorbereitet habe, entpuppt sich als unpassend. Im Tal habe ich mir noch den Kopf zerbrochen, welcher Klang in diese Landschaft passt, welche Instrumentierung geeignet wäre. Je mehr ich darüber siniere, desto mehr gefällt mir der Gedanke, dass der Soundtrack der Alpen exakt die Stille ist, die ich gerade erlebe. Sei es Klang, Ambient, Musik, sogar die historische Instrumentierung der Stubenmusik - und das finde ich höchst erstaunlich - passt für meinen Geschmack nicht in die Alpen.

Dabei ist nicht so, dass hier Stille herrscht. Geräusche, die in der Stadt als leide empfunden werden, erhalten eine neue Präsenz. Wir reden beim Gehen, die Stöcke knallen gegen Steine, die Schritte lärmen, der Wind pfeift, Vögel schreien. Ein Generator brummt im Tal. Völlige Stille, so scheint es mir, ist am Berg ebenso selten zu erreichen wie in der Stadt.

Um so schöner, hier einen Moment perfekter Stille zu erleben. Er wirkt auf mich wie ein "Reset", ein "Nullen", eine Basis, auf der ich das nächste lärmende Jahr überstehen kann. Wenige Atemzüge später hängt das Flugzeug über dem See; sein niederfrequentes Brummen blendet von rechts ein. Wir reden wieder. Der perfekte Momente mag vorbei sein - aber ich habe ihn erlebt.

Der Text ist einen Gegenstück zu Stille von Harald Taglinger.

 

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Stille von Anatol Locker steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.
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