Wie katholisch sind die Alpen
Der Papst soll ein Walliser Gelübde ändern -
Beten für den Aletschgletscher Fiesch, 06.08. (ap)
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Walliser Dörfer Fieschertal und Fiesch möchten gegen den Klimawandel und den Schwund des Aletschgletschers beten. Wegen eines 300-jährigen Gelübdes bedarf dies aber der Einwilligung des Papstes. Die Bewohner von Fieschertal und Fiesch haben 1678 das Gelübde abgelegt, tugendhaft zu leben und gegen das Wachstum des Aletschgletschers zu beten. Grund dafür waren das bedrohliche Vorrücken des Gletschers und die Ausbrüche des über dem Dorf gelegenen Märjelensees. Um die Wirkung der Gebete während der maximalen Grösse des Gletschers Mitte des 19. Jahrhunderts noch zu verstärken, wurde ab 1862 jährlich eine Prozession durchgeführt. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert.
Jetzt soll der Gletscher wieder wachsen
und das "Katastrophen-Gelübde" um Beistand
gegen den Klimawandel ergänzt werden. Der
Entscheid darüber liegt allerdings bei Papst
Benedikt XVI. Die Fiescher und Fieschertaler
hoffen, im September oder Oktober eine Audienz
zu erhalten, und sind zuversichtlich, dass
der Heilige Vater in ihrem Sinne entscheiden
wird.
Ihre Verwerfungen sind weitaus älter als diejenigen des
Vatikans und sie sind zweifellos solider als die katholische
Kirche. Dennoch drängt die Frage, ob die Alpen
denn per se katholisch sind, von der Reformation gänzlich
unversehrt geblieben. Ein demografischer Blick
über alle Ausläufer dieses zentraleuropäischen Bergmassivs
zeigt von Südtirol über österreich und Bayern
bis in die französischen Alpen mindestens eine Konstante:
Die Menschen, die hier geboren wurden, sind in
ihrer überwältigenden Mehrheit katholisch. Die Kirche
ist hier eine Macht. So stellt sich die Frage, weshalb
sich Luthers Reformation in Genf entschlossen durchsetzte,
wieso Zwingli in Zürich erfolgreich war und
die nahe Bergbevölkerung doch nicht erreichte? War
es den Reformatoren zu beschwerlich, die steilen Wege
zu den älplern hinaufzusteigen (was ja irgendwie verständlich
wäre) oder haben sich die knorrigen Bergler
einfach hartnäckig dem Neuen verweigert?
Widerspenstig und unterwürfig
Fakt ist: die Alpenbewohner sind katholisch und die
Frömmigkeit wächst - so könnte man beim Anblick
der Kapellen vermuten - proportional zur Höhe über
Meer. Keine Wegbiegung ohne schutzversprechendes
Kruzifix, keine Alp ohne anbetungswürdiges Statue.
Auch dass Papst Benedikt XVI ein Bayer ist, würde die
These , diese Felsverwerfungen seien tatsächlich katholisch
kontaminiert, zusätzlich stützen.
Verwirrend ist das Verhalten der Bevölkerung droben
zwischen den Felswänden ohnehin. Egal ob in Südtirol,
Bayern oder im Wallis: Den weltlichen Mächten
gegenüber sind die Menschen hier besonders widerspenstig
und aufmüpfig, die Autorität des römischen
Papstes anerkennen sie dagegen oft geradezu unterwürfig.
Ein Wesenszug, der sich Aussenstehenden nicht auf
Anhieb zu erschliessen vermag.
Cuius regio, eius religio
Einer, der schon in verschiedenen Regionen des Alpenraums
gearbeitet hat, ist Pater Hans Berger. Seine
kirchliche Arbeit führte ihn in die Innerschweiz, nach
Deutschland und für zehn Jahre nach österreich. Seine
Stube im Haus neben dem Dorffriedhof zieren holzgerahmte
Fotos von Blasmusikvereinen, die der rührige
Theologe im Laufe seiner langen Karriere dirigierte,
teilweise selbst gründete. Pater Bergers Leidenschaft
gilt der Musik als Mittlerin zwischen den Menschen.
Die Trachten der Musiker weisen auf ihre Herkunft
und mittendrin steht jeweils der Priester, wenn es sein
muss auch mal in ländlich-rustikaler Kostümierung.
Seit 16 Jahren hütet er nun schon seine Schäfchen in
einem hoch gelegenen Walliser Dorf und den Nachbargemeinden.
Für die Frage, weshalb so viele Menschen in den Alpen
mit grosser Inbrunst dem Katholizismus huldigen, hat
er zuerst einmal eine recht profane historische Antwort:
"Cuius regio, eius religio", oder für die Nichtlateiner:
"Wer herrscht, bestimmt die Religion".
Weil die Herrscher über die Alpengebiete auch durch
die Reformationszeit den katholischen Glauben beibehielten,
blieben folglich auch die Untertanen dem
Vatikan treu. Weshalb aber erwiesen sich die Bergregionen
auch später für die Reformatoren als uneinnehmbares
Gebiet? Für das Wallis begründet der Pater das
Ausbleiben einer Reformationsbewegung allein schon
durch die geografische Lage. Gegen Norden bildete das
Gebirge ein beinahe unüberwindliches Hindernis gegen
fremde Einflüsse und im Süden stiessen die Oberwalliser
auf eine Sprachbarriere. Erst der Strassenbau
und die Eisenbahn und der darauf folgende Tourismus
löste die Bevölkerung im 20. Jahrhundert aus der Isolation.
"Mit Verzögerung aber unaufhaltsam kommen
die gesellschaftlichen Entwicklungen nun auch in den
Bergdörfern an", stellt Pater Berger nüchtern fest. Die
Realitäten der Talgemeinden erreichen langsam auch
in die höher gelegenen Orte: Den Bedeutungsschwund
der katholischen Kirche. "Was Vereine und politischen
Gremien in Form von Mitgliederrückgängen und sinkender
Beteiligung erleben, macht auch vor der katholischen
Kirche nicht Halt". Im gleichen Atemzug
kritisiert er Kirchenvertreter, die glauben, diese Entwicklung
mit Konservatismus aufhalten zu können.
Zwölf Ministranten und Weihrauch
wirken feierlich
Trotz dieser Absetzungstendenzen ist die Berglandschaft
nach wie vor mit frommen Zeichen durchsetzt.
Die Abgeschiedenheit habe die alten Verhältnisse
eben lange konserviert, der Kirchbesuch ist jedoch
inzwischen keine gesellschaftliche Pflicht mehr. Die
Jugendlichen orientieren sich auch hier oben an den
Freizeitangeboten im Tal. "Es kommen kaum mehr
Junge in die Kirche", sagt der 68-Jährige. Die Gründe
dafür gleichten sich überall: "Die Jugend sucht
heute den Event und will unterhalten werden."
Die erste Strasse ins Dorf hinauf in den Fünfzigerjahren
und die darauf folgende Mobilität haben eine
Entwicklung eingeleitet, die jetzt mit Verspätung auch
das kirchliche Leben verändern.
Vielleicht mutet unter diesen Voraussetzungen unsere
Frage nach den Gründen, sozusagen dem "einzigartigen
Verkaufsargument", der katholischen Kirche im
Dorf weiter die Treue zu halten, etwas merkwürdig
städtisch an. Pater Berger streicht darauf in seinem
Plädoyer für seine Kirche die emotionalen Aspekte
hervor: "Früher haben die Menschen hier von ihrem
Boden gelebt, der war ihnen heilig". Ihre Botschaften
einfach und unkompliziert zu verkünden, sei weiter
Aufgabe der Kirche, "und die Menschen nehmen,
wie sie sind". Und nicht zuletzt: "Eine schöne Messe
mit Chören, zwölf Ministranten und Weihrauch wirkt
sinnlich und feierlich. Das mögen die Leute."
Fazit
Die Alpen sind zwar noch immer katholisch besetzt,
fragt sich allerdings, wie lange noch. Die Zeiten,
in denen auf allen Höhen mit der gleichen Inbrunst
Rosenkränze gebetet werden und Weihrauch
das Opium fürs Volk ist, laufen unbarmherzig ab.
(So) Wie mit dem Klimawandel die Schneegrenze
steigt, steigt mit der weiter wachsenden Mobilität auch
die Katholizismusgrenze.
So werden in naher Zukunft im Alpenmassiv die
steilsten Felswände und die höchsten Gletscher - so
sie bis dann nicht vollends abgeschmolzen sind - vielleicht
wieder wie in Urzeiten vollkommen konfessionslos
sein.
Wie katholisch sind die Alpen von Peter Hunziker steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz. Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie unter http://www.verbis.ch erhalten.
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