Nassschnee

Sie hatten gesagt, das sei eine spannende Abfahrt, dort von der Karwendelspitze, im Winter. Man könne mit der Bahn schnell hinauf und dann mit den Skiern eine Naturabfahrt bis ins Tal fahren. Natürlich würde ich mit hoch. Skifahren? Ja, ein wenig, nicht wirklich viel, aber es würde schon langen. Dann stiegen wir in die Gondel und glitten hinauf. Den Fussweg zum Gipfel kannte ich von einem viel früheren Sommer, ich war ihn mit meiner damaligen Liebe gelaufen. War ihn in der Vormittagshitze hinauf gehastet, fast zu schnell angegangen, ich hatte vergessen, wie gut sie mit Läufen trainiert war. Das konnte für mich nicht gut gehen. Sie lief mir davon, hatte mich fast vergessen in ihrem Gang. Und ich keuchte hinterher, verstand dadurch, dass ich eigentlich mit ihr zusammen nichts im Leben verloren hatte, und dass ihr schönes Gesicht sich mir bald abwenden würde. Wir hatten nicht die gleichen Schritte. Nicht einmal an einem gemeinsamen Berg. Auch später nicht mehr, dann noch sichtbarer. Aber ich gab es mir an diesem Sommer noch nicht zu. Und jetzt war es fünfzehn Jahre später Winter, die Gondel erreichte bequem die Bergstation, und wir Arbeitskollegen dackelten in Skischuhen mit unseren Carvern am Oberkörper im Gleichschritt hinaus. Wolken waren aufgezogen, leichter Schneefall, ein Wind kam auf. Meine Kollegen hatten ihre Skier schon an und skateten im Kennerschritt auf den Verbindungstunnel zur Naturpiste hinüber. Nach einer kurzen Fahrt in der Dunkelheit öffnete sich auf der anderen Seite ein Talhang, der beeindruckend steil bis zum Tal hinunter nach Mittenwald abfiel. Der darauf gehäufte Schnee lag schwer und nass, roch ungut, schimmerte silbern im sich verdüsternden Wetter. Ich glitt ihnen hinterher und sah sie schon im Tiefschnee scheinbar mühelos hinunter wedeln. Ich war noch nie in meinem Leben abseits einer gewalzten Piste gefahren. Schon in der ersten Kurve legte es mich seitlich weg. Ich rappelte mich wieder auf und versucht ein langsames Anfahren. Angst kam in mir auf, ich würde den Berg einfach hinunterfallen und dort irgendwo liegen bleiben. Der Schnee fiel nun schon stärker, und meine Kurven wollten sich nicht auf die Skier überragen. Im Zickzack kreuzte ich die Buckel und Schlieren anderer Schwünge von einem bis zum anderen Ende, verlor kaum an Höhe, begann in meinem Skianzug kalt zu schwitzen und strengte mich Meter um Meter nach unten an. Ich sah sie auf halber Höhe gelangweilt warten. Vermutlich enttäuscht, mich mitgenommen zu haben. Ich tat alles, was ging, fiel immer wieder, spürte diese Angst in mir weiter hochkriechen und die Beine schwerfällig werden. Unendliche Minuten, bis das Gelände ein wenig leichter wurde und ich zum ersten Mal so etwas wie einen Schwung hin bekam. Ich erinnere mich noch genau an die graukalkigen, scharfkantigen Felsen, die uns einrahmten und mir keinen Fluchtpunkt an der Seite zuliessen. Nur die Falllinie schien mir offen, wie ich da Höhenmeter um Höhenmeter hinunterschlich und dann schliesslich mit einem müden Witz bei ihnen ankam. Aber sie schauten mir nicht einmal bei meinem Einkehrschwung zu, sondern waren schon wieder weiter nach unten geschossen. Ich zuckelte ihnen hinterher. Und erst ganz unten, an einem Ziehweg bis zur Talstation konnte ich so etwas wie Fahrt aufnehmen. Als ich zum Wagen kam, hatte ich ihnen zum ersten Mal etwas von einer leidlichen Geschwindigkeit auf Skiern erreicht. Es sah für Unbeteiligte am Parklatz sicher so aus, als wäre ich auch wie sie mit Vergnügen die Naturpiste herunter gekommen. Sie scherzten, ich wischte mir den Schweiss unter der Kappe weg und lachte mit. Was sie sagten, hörte ich nicht. An diesem Sommer, fünfzehn Jahre vorher erreichte ich hinter meiner Liebe den Gipfel, wo sie schon stand und in die Ferne schaute. Wir lachten glücklich und sahen aneinander vorbei.

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Nassschnee von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz.
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