Haltedienst

Ab heute Morgen haben alle Gäste des Ortes, deren Nachnamen mit den Buchstaben A-F anfangen, den ganzen Tag lang Haltedienst. Also begeben sich Frau Anderl, Herr Brettschneider, Herr Cholowski, Frau Dreher, Frau Ernst, Herr Fischer und alle die anderen nach dem Frühstück aus den Zimmern 14 bis 25 sofort in den Ortskern. Dort werden sie ihren Haltedienst statt der Abgabe der Kurtaxe ableisten, bei ein wenig Glück sogar am selben Haus, in dem sie auch einlogiert sind. Das entscheidet der Gemeinderat, der aber für seine wohlwollenden Entscheide bekannt ist. Und immerhin muss man auch sagen: niemand von den Gästen wird zum Haltedienst gezwungen, natürlich kann man auch die - zugegebenermassen nicht unerhebliche aber doch noch bezahlbare - Kurtaxe begleichen. Dann ist man vom körperlich doch anstrengenden Haltedienst befreit. Das ist möglich, kaum einer will das aber. Es hat nichts mit Geiz zu tun. Kaum einer der schon seit Jahren immer wiederkehrenden Gäste würde nicht freiwillig diesen Dienst an der Gemeinde verrichten. Meist ja auch durchaus zum eigenen Nutzen. Halten ist erste Bürgerpflicht, hört man den Bürgermeister immer wieder einmal zum Besten geben. Und ganz von der Hand zu weisen ist das nicht.

Wenn alle zusammen halten und sich im Dienste an die Kurgemeinde engagiert gegen die schon im Abrutschen befindliche Aussenmauern stemmen, dann werden die Kurhotels auch im nächsten Jahr noch links und rechts von der steilen Schlucht stehen. Also finden sich alle zum Haltedienst ein.

Tatsächlich hat man an diesem Morgen Glück. Fast ausnahmslos kann man sich nur eine halbe Stunde nach der allegmeinen Versammlung wieder in den eigenen Kurhotels einfinden und mit dem Haltedienst beginnen, wo man die etwas ausgelaugte Nachtschicht nahtlos ablöst. Da weiss man doch, wofür man das tut. Was hilft es denn, wenn man sich wirklich mit Leib und Seele bei einem fremden Gemäuer gegenstemmt und dann mit ansehen muss, wie das eigene Feriendomizil knirschend zuerst und dann krachend in den Wildbach abrutscht. Wo bleibt denn da die Entlohnung für die doch recht anstrengenden Stunden, von denen man nur eine schmerzende Schulter und einen Krampf in der Wade davon tragen kann? Das heisst: ganz so ist es ja nun auch nicht, denn die Kurverwaltung erkennt einem die couragierte Stützarbeit mit amtlichem Stempel als Gastein'sche Stütztherapie an. Und die Krankenkasse bezuschusst diese Tage grosszügig. So haben alle etwas davon.

Pech nur, wenn - wie in diesem Kurhotel zu dieser Zeit des Jahres - die Gäste untereinander sich nicht wirklich gewogen sind. Verständlich, man stützt schliesslich schon seit Jahrzehnten zusammen und hat sich dabei nicht nur Freunde gemacht. Das Schwitzen und Stemmen, Schulter and Schulter, setzt nicht nur gute Energien frei, lässt nicht nur Freundlichkeiten aufkommen. Und so wundert es nicht, dass Frau Anderl, Herr Brettschneider, Herr Cholowski, Frau Dreher, Frau Ernst, Herr Fischer heute Morgen sich schon von Beginn an eher missmutig und verstohlen feindselig anschauen. Man hat es nicht gern, miteinander Haltedienst zu verrichten. Es ist einfach schon zu viel vorgefallen. Wie zum Beispiel 1982! Als Herr Brettschneider, leider starker Raucher und auch sonst nicht gerade der geselligste Typ, auf eine Zigarettenpause pro Stunde insistierte und so immer wieder, obwohl wirklich dringend benötigt, für lange Minuten ausscherte. Es darf nicht verwundern, dass die anderen, bereits durch einen langen Tag entkräftet und nun auch noch mit Brettschneiders Zusatzlast überfordert, ausgerechnet in einer Rauchpause und in Unterzahl (Herr Fischer hatte sich entschuldigen lassen und war in der Pause kurz austreten gegangen) schier unaufhaltsam das Unglück zwar sahen, aber nichts mehr gegen das Abrutschen des Kurhotels Schweigerhof machen konnten. Wehrlos liessen sie sich gerade noch zur Seite Fallen und konnten nur noch fassungslos mitansehen, wie der Panoramatrakt des Hotels in den Wildbach donnerte und dabei noch die Hauskatze mit sich riss.

Man musste daraufhin zusammen in das noch ältere Kurhotel umziehen und die Zimmer 14 bis 25 belegen. Man fühlte sich verantwortlich und man war auf Herrn Brettschneider und Herrn Fischer seitdem gar nicht mehr gut zu sprechen. Zumal die Herren sich keiner Schuld bewusst waren. Vorgeblich, allerdings hatten sie sich in Folge auch geduckt wieder für die nächsten Jahre als Gast eingeschrieben und versahen ab diesem Zeitpunkt zumindest tadel- und pausenlos innerhalb der zugeteilten Schichten ihren Haltedienst. Aber der Haussegen inmitten dieser Gästeschar schien seitdem gestört. Nun verrichtet man seit 23 Jahren zusammen ohne Gruss seine Aufgabe. Eher verbissen und mit den Jahren durch das Alter der Gelenke und das Aufkommen der Rollatoren und das umständliche Beisein von Sauerstofflaschen gestört. Aber man lässt sich nicht abhalten. Seitdem ist auch keines der Hotels in ihren Händen abgerutscht. Bei anderen schon. Aber nicht bei ihnen. Dafür hat die Gemeinde im Jahr 2017 oder 2018 die goldene Haltemedaille für "40 Jahre Haltung" versprochen. Eine grosse Ehre, die nur wenige Gästegruppen vorher in Empfang nehmen konnten. Den meisten rutscht bis dahin etwas ab. Aber Frau Anderl, Herr Brettschneider, Herr Cholowski, Frau Dreher, Frau Ernst, Herr Fischer haben es sich wirklich vorgenommen und wähnen sich schon in der Zielgeraden. Man muss sich dazu ja nicht mögen.


 

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Haltedienst von Harald Taglinger steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz.
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