Urvertrauen

Hermann lief zuerst am Wald entlang, dann hinein. Er sah nur den nächsten Baum. Ein Stamm um den anderen. Sie waren mit dem Wagen am Nachmittag angekommen. Sie liefen anhand einer Karte den Berg hinauf. Das dachten sie zumindest. Denn in diesem Nebel gab es kein oben und unten. Aber es ist doch gut so, dachte sich Hermann schon sehr bald. Ein Schritt um den anderen. Und danach noch einen Schritt. Ein Atmen und ausatmen. Die Landschaft um ihn herum versank nach fünf Schritten in einem Weiss, das alles übermalte, was vor der Abfahrt noch wichtig gewesen sein konnte. und jetzt liefer mit den anderen und schwieg in den Nebel hinein. Es fühlte sich weich an. Es schien schon immer da, nur Hermann und die anderen schienen dazu gekommen. Es sollte, so sagt die Karte, um sie herum Berge geben. Aber das konnten sie in diesem Moment nicht wirklich sehen. Sie vertrauten einfach der Karte. Sowie sie allem vertrauten. Das Drehen eines Zündschlüssels startet den Motor. Die Räder halten an den Achsen, auch wenn die Geschwindigkeiten hoch sind und die Kurven sie in langen Fahrstunden zur Seite neigten. Und als sie an der Pension angekommen waren, dann funktionierte die Reservierung. Man erwartete sie. Und als sie das warme Wasser aufdrehen, dann strömte ein heisser Strahl aus dem Duschkopf. Und als sie das Haus verliessen und sich dann links nach dem Berg wandten, dann kam nach 500 Metern ein bemalter Felsen mit einer Zehn auf sie zu und nahm sie mit auf den Berg hinauf. Auch wenn sie den Weg nicht weit sehen konnten, die wiederkehrenden Zeichen waren doch nicht zu übersehen. Das alles funktionierte. Alles funktioniert in den Bergen, sie wie man es erwartet. Es gibt eine Erhebung, darauf gibt es ein Kreuz, das ist dann der Gipfel. Danach geht es wieder bergab, was vorher im Schweiss und mit schwerem Atem zu bewältigen gewesen war. Zu einem anderen Tal oder zum gleichen zurück. Und wenn sie der Karte folgten und sich nur an der Zehn entlang orientierten, dann würde auf der anderen Seite in eineinhalb Stunden ein neuer Anstieg auftauchen. Aus dem Nebel. Und wenn sie dort sich auf der Höhe der Talsohle in den Gastraum begäben, dann würde dort schon eine Menükarte auf sie warten. Und es würde nach der Bestellung schon nach wenigen Minuten mindestens ein Getränk auf dem Tisch zu stehen kommen. Jemand hat schon morgens den Ofen angeheizt. Und nun wartet er auf seine Gäste. Und diese Gäste wählen aus, und dann steht kaum ein paar Augenblicke später das warme Essen auf dem Tisch. Sie werden dieses Essen mit einer Karte bezahlen, denn die Bank wird dann den entsprechenden Betrag auf das Konto des Wirts überweisen. Das funktioniert einfach. so funktioniert das moderne Leben ohne ein Hinsehen. Zu hundert Prozent. Und der Nebel deckt alles zu, aber das ist nicht schlimm. Denn alles findet einfach statt, so wie wir es erwarten. Hermann ging strammen Schrittes den Weg entlang. Er wusste, dass die Berge einfach da sein würden, auch wenn sie jetzt niemand sehen konnte. Nie sind die Berge an einem anderen Platz. Sie tauchen einfach immer dann auf dem Nebel aus, wenn sie wieder zu sehen sein sollen. Aber sie stehen nie an einem anderen Ort. So hat alles seinen Platz: die Gasthäuser, die Karten aus Plastik, das Auto, das immer noch an der Talstation stand. Nie fehlt etwas. Wie schön.

Wenn du einen Moment zweifelst an alledem, so dachte Hermann bei sich und hielt kurz ein. Aber da war dieser Gedanke bereits wieder im Nebel verschwunden. Hermann wollte einfach nicht daran glauben, dass er nicht vertrauen sollte. Er ging in die Berge, um genau dort alles zu finden, was auch in den Karten stand. Deshalb war er hier. Wenn die Berge in überraschten, auch nur einmal, dann würde er sie meiden im Zukunft.

Da mochte es zuweilen Unwetter geben, aber auch die stehen in Wettervorhersagen. Unten mag es einmal ein schlechtes Essen geben, aber das konnte er vorher schon im Internet nachlesen. Die Berge sind nicht dazu da, Hermann zu überraschen. Die Berge sind dazu da, Hermann immer wieder das zu geben, was er sonst nicht verlässlich finden würde. Deshalb dürfen sie hier stehen. Deshalb sind sie hier. Wären sie einfach weg, würden Hermann verzweifeln.

Der Nebel ist wie eine Frau, die sich ziert und doch dahinschmelzen will. Denn dahinter findet das statt, was alle doch erwarten. Auch wenn das Hermann und die anderen jetzt nicht sehen konnten. Der Nebel ist wie ein Schleier, der am Schluss immer fallen muss. Er hat nicht wirklich eine Funktion ausser der, doch zu vergehen und dann endlich das freizugeben,was sein muss.

Das Auto, der Parkplatz, der eine Weg, die Markierungen, das Gasthaus, das Essen, die Bezahlung, der Abstieg.

Es hier viel zu wenig, das Unsicherheit gibt. Was ist da schon Nebel.

 

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