Der dunkle Berg

Und ab dem 17. September des gleichen Jahres begann sich der Berg über dem Dorf, der sich neben dem Col de Nana schroff erhob und seine felsige Flanke gegen das Tal stellte, nach und nach dunkel zu färben. Was zuerst nicht weiter auffiel, denn Wolken durchrissen das Blau des Himmels und verdeckten den Blick auf seine Wände, liessen zunächst nur eine unsichtbar aufgetürmte Wand gegen das Tal stehen und der Färbung keine weitere Beachtung schenken.

Aber die Sonne tat zunehmend ihr Werk, durchbrach den dunklen Wolkentag und liess das Schwarz im Licht des Nachmittages stärker hervortreten. Da stand eine Nacht aus Stein vor dem Dorf und liess sich nicht mehr aus den Blicken nehmen. Nur muss man genau sein, denn eigentlich gibt es kein Schwarz in einer Landschaft, nur bunte Schatten aus einem Aquarell. Aber das hier war ein Dunkel, eine Entfärbung, die das Auge weiter weniger anstrengte, als es das Gleisen des Lichts oder das unangenehme Glänzen der Mattenfarben tun konnten. Der Berg entzog sich immer weiter dem Licht und liess keine Farbe mehr erkennen. Fast war es, als würde die Spätsommersonne, kaum dahinter morgens aufgegangen, einem Magneten gleich eingesogen. Manch einem, der sich nur mühsam an den düsteren Anblick gewöhnte, schien es so, als wäre gegen Osten zu, wo früher nur eine Felsvertikale das Tal begrenzte, jetzt ein Loch im Himmel entstanden, das gleichsam so tief hineinführen musste, dass man nicht auf seinen Boden sehen konnte, und das deshalb nur ein verlorenes Starren in die Tiefe erzeugte.

Man mied den Blick hinauf. Es war nicht angebracht, in das Dunkel zu schauen. Nicht dass es einem etwas tat, dass es Böses auf das Dorf hinunterrollen liess oder Einzelnen Leid zufügte. Nichts dergleichen geschah. Es war einfach nur da. Es stand undurchdringbar vor allen und führte das Tal in eine Seite ins Nichts hinein. Kein Widerstand gab dem Blick halt, wenn man es besah. Da schien es besser, es nicht zu beachten und einfach so zu tun, als wäre es nicht sichtbar, als würde sich immer noch ein grantiner und mit Flechten durchsetzter Stein aufgetürmt dort oben befinden. An Sonntagen aber, wenn es von der Kanzel herunter donnern sollte und der vom unteren Tal heraufkommende Pfarrer eine Drohpredigt zu halten gedachte, dann stand das Wort vom Dunklen plötzlich wie eine Wand mitten im Kirchenschiff und trennte alle in der Messe vom Licht ihres damit arrangierten Lebens ab. Mittendurch ging es wie ein Riss zwischen denen, die sich nicht um die Kirche scherten und auch diese Suada mehr schlafend ausstanden, und denen, die sich gleichsam einem immer mehr in das Schwarz hinein hämmernden Wort gegenüber sahen. Dunkel.

Es genuügte eben dieses Wort immer wieder halblaut vor sich hin zu murmeln, dann kam bei allen, die das taten, die Angst zuruück über etwas, das man nicht einmal kannte, das noch weiter weg schien als dieser ewige Himmel, von dem der Paffe ständig sprach. Es setzte sich fest in den Köpfen derer, die es jeden Tag vor sich sahen und doch nicht verstehen konnten. Fast schien es, als wäre das Wort an sich von keiner Farbe mehr. Wäre doch wenigstens einer einmal mutig genug gewesen dort hinauf zu gehen und den Berg anzulangen. Aber keiner wollte das tun, man hielt Abstand und riet Wanderern davon ab, sich auch nur in die Nähe des Felssockels zu begeben. Man schwieg ansonsten darüber, doch versuchte man doch einmal darùˆber sich auszutauschen, dann kamen nur hauchdünne Erklärungen auf wie ein Film Wasser, der über eine Austrittswand rann. Dass man sich irre. Oder dass die Wand immer schon sehr dunkel gewesen sei. Einer hatte sich sogar lustig gemacht über die Einfärbung und war im Dorfkarneval jahrs darauf als Wand verkleidet tief schwarz mit Russ gefärbt in die Wirtshausstube getreten. Die Musik gefror, man hörte kein Lachen und Scherzen mehr, Stille hielt Einzug und wollte erst mit ihm weggehen, als der Mann seufzend den Ort der Feier verliess. Nur mühsam und tastend kam etwas wie ein Lachen zurück.



Das Dunkel, das sich nach Sonnenuntergang als sternenschluckender Keil bis weit oben zeigte, war auch nach Sonnenaufgang zu sehen und liess darin die Nacht verschwinden, hielt sie wie fest. Es war, als würde man nie wieder einen ganzen Tag sehen und nur den gebrochenen Horizont wahrnehmen, der einem nicht mehr all den Himmel bieten konnte, und sich doch um die Welt spannte. So unverschämt und so rücksichtslos war dieses Dunkel. Jahrelang. Dann, viel später und an einem der Sommer danach, hatte der Bürgermeister genug, er liess Helikopter mit Farbsprühdüsen aufsteigen, hatte das ganze Dorfvermögen für ein Dutzend dieser Flugmaschinen aufgeboten und schrieb auf grosse Plakate, man würde am 17. August morgens aufsteigen und die Bemalung des Berges in Gang setzen, vor der Wand die Düsen fliegend dazu bringen, das Gestein weiss abzusprühen und so wieder erträglich werden zu lassen. Einem Volksfest gleich versammelte sich die Dorfgemeinschaft am Morgen und applaudierte den startenden Maschinen, die schnell an Höhe gewannen, weit hoch bis vor die Wand flogen. Als diese sich ihr dann näherten, verschwand ein Helikopter nach dem anderem im Schwarz.

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