Stürmische Zeiten auf dem Tannenhof

Aus der Serie "glitzernde Bergkristall-Geschichten" des Enzian-Verlags - Folge 16.

Endlich hatte sich der Sturm gelegt. Die krachenden Donner waren nur noch als fernes Grollen zu vernehmen, und erste Lichtstrahlen zwängten sich durch die kleinen Lücken der aufreissenden Wolkendecke. Einem göttlichen Fingerzeig gleich richtete sich ein heller Lichtkegel durch die feuchte Luft auf den Tannenhof, das prächtige Bauerngut am Bergfuss. Wie glänzende Perlenschnüre reihten sich die Regentropfen jetzt an den Tannennadeln und sanft wogte der mächtige Baum neben dem Haus.

Der Wind war vom wütenden Sturm zur sanften Sommerbrise abgeklungen. Ein buschiges Eichkätzchen, das sich eben noch ängstlich am Stamm festgekrallt hatte, sprang nun ungestüm von Ast zu Ast, verharrte kurz, um sich bei einem Tannzapfen zu vergnügen.



Währenddessen nahm auch in der Küche des Hofes wieder alles seinen gewohnten Lauf. "Jo mei", sagte Franz und nestelte verlegen an seinem Hosenträger. "Passt scho", hauchte Johanna mit feiner Stimme und strich ihr Dirndl glatt. Die fesche Jungbäuerin mochte es, wenn sich die Natur mit einem gewaltigen Gewitter entlud und der diesige Dunstschleier klarer Weitsicht wich. Die Spannungen, die sich zwischen ihr und Franz regelmässig aufbauten und den häuslichen Frieden bedrohten, hatten in solchen Momenten keine Bedeutung.

Johanna schob die schwere Teigschüssel zurück in die Mitte des Küchentisches und machte sich wie befreit an die Arbeit. Mit kräftigen Bewegungen knetete sie mit ihren schlanken Händen die feste, klebrige Masse, die einmal ein deftiges Brot werden sollte. Im Hintergrund loderte die Glut des Holzofens, die Fensterscheiben waren noch immer beschlagen. Der hoch gewachsene Franz, kein Mann grosser Worte, schlüpfte, seinen wuscheligen Haarschopf einziehend, durch den niederen Türsturz hinüber in die gute Stube. Das Kruzifix in der Zimmerecke vermittelte ihm stets eine eigentümliche Sicherheit und Geborgenheit.

Auch unten im Kuhstall herrschte wieder Ruhe. In Reih und Glied stand das prächtige Milchvieh, genoss wiederkäuend das Nachlassen des Unwetters. Vom Aufruhr, der hier vor kurzem noch die viehischen Gemüter bewegte, war nichts mehr zu spüren. Am Rand des Ganges beim Stalleingang lag Franz' Mutter, ihr Schädel von einer dunkelroten Blutlache malerisch umrahmt. Das Bild erinnerte an eine zersplitterte Chiantiflasche. Diese bauchigen Korbflaschen, die in den Siebzigerjahren vielen bunt tapezierten Etagenwohnungen einen bitterzarten Hauch von Italianitˆ verliehen oder wenigstens mit buntem Kerzenwachs überlaufenem Flaschenhals abenteuerliche Stimmung ins Gartenhaus brachte. Das langsam über den Stallboden fliessende Blut der Altbäuerin hatte die dunkle, gesunde Farbe eines kräftigen Rotweins. Spontan würde man eine Note von Brombeere oder Schwarzkirsche erwarten, die kräftige Farbe liesse einen Ausbau im Eichenfass vermuten. Doch das malerische äussere täuschte. Der Abgang von Johannas Schwiegermutter im Umfeld biologischer Milchwirtschaft war offensichtlich herb. Ihr Kopf war zweifellos mit einem recht groben Gegenstand aus seiner ursprünglichen Form gebracht worden. Sympathisch und erfreulich war einzig der friedliche Gesichtsausdruck der Altbäuerin: Ein sanftmütiges Lächeln, das ihr bis zu diesem Abend bedauerlicherweise immer schwer fiel, genau genommen nie gelang.

Oben in der Dachkammer war seit zwei Woche ein altes Paar aus Amerika als Tannenhof-Gäste bei Bed & Breakfast einquartiert. Die beiden bildeten im New York der fünfziger Jahre ein unzertrennliches Duo. Unlösbare Fälle waren dem G-man Jerry Cotton und Phil Decker, seinem Assistenten und Lebenspartner, unbekannt. Weitaus höher anzurechnen als ihre kriminalistischen Erfolge ist den inzwischen 87-Jährigen indes, dass sie mit ihren Geschichten Myriaden von Groschenroman-Autoren vor Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe bewahrten. In Ehren ergraut und im allerletzten Lebensabschnitt angekommen war Jerry längst nicht mehr nach seinem schnittigen Jaguar XKR und Verfolgungsjagden durch die tiefen Häuserschluchten der Grossstadt. Im Sommer, wenn es in der staatlichen Seniorenresidenz an der 61. Strasse jeweils unerträglich heiss wurde, verzogen sich Jerry und Phil für einige Wochen nach Europa. Hier suchten sie einen kühlen und vor allem ruhigen Orte. Zum Tannenhof führte sie ein schöner Zufall und die Empfehlung eines Freundes vom CIA. Nach einem Burn-out hatte dieser kurz vor der Pensionierung hier in der Stille des Tales für drei Wochen Kräfte getankt, um seine letzten Monate bis zum Rentenbezug in Washington gestärkt hinter sich bringen. Phil und Jerry waren ausserordentlich glücklich, diesen Ort gefunden zu haben. Nach drei Bypass-Operationen mied Jerry jede Aufregung. Phil oblag deshalb die Rolle des Schutzengels, der seinen Freund vor jeder Art von Hektik zu schützen.

Draussen zwitscherten die Vögel, der Bergsommer zeigte sich von seiner schönsten Seite. Hie und da durchbrach ein lautes Blöken die filigraneren Klänge der Natur. Als sich die Abendsonne rotglühend hinter den Gipfeln niederliess, war die Welt im Tannenhof in Ordnung. Einzig Jerry Cotton und Phil Decker fragten sich, ob ihr Ferienidyll gefährdet ist. Sollten Sie vielleicht doch schleunigst zurückkehren in die geordnete Welt der Seniorenresidenz an der 61. Strasse, wo es mittags Tanztee, Bingo und Attraktionen wie den Magier Mirakuli mit seinen faszinierenden Zaubertricks gab. Aus dem Fenster sahen sie gerade, wie Franz die schwer beladene Schubkarre aus dem Stall stiess und Johanna mit einer Schaufel über der Schulter hinterher hüpfte. Ihr Dirndl blähte sich im Abendwind und die weisse Schleife der Schürze flatterte lustig im tiefroten Gegenlicht. "Jo, mei", entfuhr es Franz und Johanna beruhigte: "Passt scho." Jerry fasste sich an die Brust, wollte etwas sagen. Phil Decker wurde es in diesem Moment bang ums Herz und er ahnte: Dieser Urlaub könnte trotz der traumhaften Ruhe hier oben unschön enden.

Werden Franz und Johanna den neuen Frieden auf dem Tannenhof wirklich geniessen können und wird noch einmal ein heftiges Gewitter den Streit darüber beilegen können, wer künftig die Arbeit der Altbäuerin übernimmt? Und wird wenigstens der Herzschrittmacher von Jerry Cotton den Spannungsanstieg unbeschadet überstehen oder sollte er gar als Folge eines Kabelbrandes irreparabel Schaden nehmen? Verpassen Sie nicht Folge 17 von "Stürmische Zeiten auf dem Tannenhof", Eine Geschichte voller Romantik und vielen reizenden Familienszenen.

 

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Stürmische Zeiten auf dem Tannenhof von Peter Hunziker steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Schweiz Lizenz.
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